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Westdeutscher Rundfunk
Am Abend vorgestellt


Rollenspiele in Fenstern. Über Sherry Turkles Buch "Leben im Netz. Identität im Zeitalter des Internet".

Ein Beitrag von Thomas Kleinspehn




Sp. 1: Sprecherin
Zit. 1: Sprecher
Zit. 2: Sprecherin


WDR 1998




Zit 1:
Ich fand heraus, daß sie kein Kalbfleisch mag, und fragte sie, ob es ihr was ausmachen würde, wenn ich Kalb bestellte. Die haben nämlich wirklich leckere Kalbscallopini. Und sie sagte, ja, es würde ihr etwas ausmachen, also habe ich kein Kalbfleisch bestellt. Dann unterhielten wir uns über ihre Forschungen. Sie arbeitete über eine bestimmte Krankheit... Zwei Stunden lang haben wir uns unterhalten. Wir redeten und redeten. Und dann mußte sie zur Arbeit, also beendeten wir das Essen, und sie ging.

Sp. :
Achilles hatte sich zum ersten Mal mit seiner Freundin Winterlight verabredet. Er hatte sie mit einem luxuriösen Auto vom Flughafen abgeholt, sie zunächst ins Hotel gebracht und war dann mit ihr in das kleine italienische Restaurant gefahren, wo sie einen romantischen Abend verbrachten. Danach trafen sie sich noch öfters und kamen sich näher.

Zit 1:
Ich bin weit herumgekommen in diesen Landen... und auf meinen Fahrten bin ich vielen Menschen begegnet. Ich denke, die liebenswürdigsten Menschen leben hier in Gargoyle. Diesen Ort betrachte ich als meine Heimat... Nah und fern habe ich nach einer schönen Jungfrau Ausschau gehalten mit Haaren so gülden wie Sonnenschein und Lippen so rot wie Rosen... Winterlight, du bist die Jungfrau, nach der ich gesucht habe. Du bist die Schönste im ganzen Land. Winterlight, willst du mich heiraten?

Zit 2:
Winterlight zeigte ein "bezauberndes Lächeln" und sagte: "Winterlight weiß, daß die Antwort auf ihren Antlitz zu lesen ist. Und dann, M'lord... ich bin Euch aus tiefsten Herzen zugetan."

Sp. :
Die beiden Menschen, die sich hier ihr Heiratsversprechen geben, haben sich noch nie gesehen. Sie wissen von dem anderen auch nicht, welches Geschlecht er hat. Sie wohnen viele tausend Kilometer weit entfernt und werden sich vielleicht in ihrem Leben niemals von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Denn das italienische Restaurant, ihre Verlobungsfeier und ihre Hochzeit fanden in der virtuellen Welt des Cyberspace statt. Jeder saß in seinem eigenen Zimmer. Dort lebte Achilles unter dem Namen Stewart. So hatten ihn seine Eltern nach seiner Geburt genannt. Verbunden waren Achilles und Winterlight lediglich über ein Modem, das an ihren Computer angeschlossen war. Sie trafen sich in einem virtuellen Raum, in dem sich jeder hineinbegeben kann, der über eine passenden Zugang verfügt. Für diese Räume hat sich inzwischen der Begriff MUD eingebürgert: Multi-User Dungeon, einen frühen Computer-Spiel entlehnt, in dem es um Dungeons und Dragons geht - Kerker und Drachen.

Zit 2:
Die MUDs sind ausschließlich textorientiert. Alle Benutzer verwenden dieselbe Datenbank. Neben anderen Spielern finden sie dort auch die Objekte vor, die für die virtuelle Welt geschaffen worden sind. Ferner können MUD-Spieler direkt in Echtzeit miteinander kommunizieren, indem sie Nachrichten tippen, die die anderen Spieler sehen können. Dabei werden einige dieser Nachrichten von allen Teilnehmern im gleichen "Raum" gesehen, sie können aber auch so abgefaßt sein, daß sie nur auf dem Bildschirm eines bestimmten Mitspielers erscheinen.

Sp. :
So erklärt Sherry Turkle die MUDs. Die amerikanische Psychoanalytikerin und Professorin Wissenschaftssoziologie am Massachusetts Institut of Technology in Boston beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit Spielen und Computern. Als die ersten, noch primitiven, Spielautomaten und die frühen Computerspiele in den 70er Jahren auf den Markt kamen, hat sie mit Kindern gearbeitet. Sie beobachtete sie, wie sie mit den Geräten umgingen und sprach mit ihnen über ihre Phantasien. Aus dieser Arbeit entstand 1984 das Buch "Wunschmaschine. Vom Entstehen der Coputerkultur". Seit einigen Jahren hat sie sich weiter in die Welt des Cyberspace begeben und nun auch Erwachsene, wie Stewart, gefragt, was für sie die Welt des Computers bedeutet.
Ihre Beobachtungen hat sie detailliert in ihrem neuen Buch, "Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internets" festgehalten. War sie in ihrem ersten Buch zur Computerkultur noch deutlich skeptisch gegenüber dem neuen Medium, so halten sich in ihrem neuen Buch, "Leben im Netz", Faszination und Skepsis die Wage. Inzwischen ist auch für Sherry Turkle der Computer zu einem wichtigen Bestandteil ihres Lebens geworden.


Zit 2:
Email hat meine privaten und beruflichen Beziehungen enorm verbessert. Der Frust mit dem Anrufbeantworter, auf dem immer nur Nachrichten ausgetauscht werden, hat ein Ende. Mit Email kann ich mich ausdrücken wie in einem Brief. Für mich ist es eine sehr warme Art der Kommunikation. Ich benutze den Computer, um die Intensität meiner persönlichen Kontakte zu verstärken. Das physische und das virtuelle Dasein ergeben zusammen eine neue Wirklichkeit. Ist der Besorgungszettel, den ich meiner Haushälterin per EMAIL hinterlasse, weniger wirklich, als der auf dem Küchentisch? Es kann vorkommen, daß ich gleichzeitig am Bildschirm ein Interview gebe, zwischendurch in einem anderen Fenster das Tagebuch meiner Tochter vervollständige, wieder in einem anderen ein Kapitel meines Buches redigiere und schließlich meiner Freundin, deren Mann schwer krank ist, Informationen von einem neuen Arzt hinterlasse.

Sp. :
Hat die amerikanische Wissenschaftlerin dem "Spiegel" schon vor einigen Jahren anvertraut. Doch unterdessen können Gesprächsversuche mit ihr über Email auch zur Einbahnstraße werden.

Zit 2:
[hallend, rechts] Hallo, hier ist Kieran Cannistra, Professor Turkles Assistentin. Leider erwischen Sie sie zu einem höchst unglücklichen Zeitpunkt... sie ist Mitten in einem großen Umschwung, und sie bedauert sehr, daß sie kein Interview mit Ihnen führen kann, auch nicht über Email. Danke für Ihr Interesse und mit der Bitte um Verständnis: Ihre Kieran Cannistra.

Zit 1:
[hallend, links] Return to Sherry Turkle's Home Page. [Klicken]

Sp. :
Wer sich in den Computer begibt, kommt darin um - als Person, als autonomes Subjekt. Doch woher wissen wir, ob wir je eine eigenständige Person gewesen sind? Vielleicht bestehen wir schon immer aus einer ganzen Vielzahl von Identitäten und Teilidentitäten, die jeweils nur in bestimmten Zusammenhängen zum Tragen kommen? Mit diesen und ähnlichen Fragen spielt das Buch von Sherry Turkle.

Zit 2:
Das Internet ist zu einem wichtigen Soziallabor für Experimente mit jenen Ich-Konstruktionen und -Rekonstruktionen geworden, die für das postmoderne Leben charakteristisch ist. In seiner virtuellen Realität stilisieren und erschaffen wir unser Selbst. Was für Personae stellen wir her? In welcher Beziehung stehen sie zu dem, was wir traditionell für unsere "ganze" Persönlichkeit halten? Können unsere realen Identitäten von unseren virtuellen Personae profitieren? Ist es nur ein oberflächliches Spiel, eine gigantische Zeitverschwendung? Ist es Ausdruck jener Identitätskrise, die wir herkömmlicherweise mit der Adoleszenz verbinden? Oder erleben wir die langsame Entstehung eines neuen, vielfältigeren Persönlichkeitsbegriffes? [289]

Sp. :
Auf der Suche nach Antworten hierauf begibt sich Sherry Turkle in vielen Kapitel ohne Vorbehalt in die Welt des Internet, in anderen tritt sie neben den Computer und betrachtet die neue Welt mit Skepsis. Das macht ihr Buch zwar spannend, gelegentlich aber auch irritierend. Der Leser möchte auch eingreifen, verändern, fragen. Nachdem das email der Autorin in Boston verstummte, hat der Autor dieser Sendung deshalb nach einem anderen Begleiter gesucht, mit dem er einen Dialog führen konnte. Ihn hat er im Netz gefunden: Mike Sandbothe, im realen Leben Philosoph und Hochschullehrer in Jena.

Zit 2:
[hallend, rechts] Thomas Kleinspehn schrieb: Was fasziniert sie so an dem Buch von Sherry Turkle?

Zit 1:
[hallend, links] Ich war zum Zeitpunkt des Erscheinens gerade in Boston und nahm an der Fourth World Wide Web Conference teil. Damals war das Internet in Deutschland noch kein wirkliches Thema, aber in den USA war die Kommerzialisierung des Netzes bereits im vollen Gang. Auf der Konferenz in Boston trafen sich die technischen Ahnen und Urahnen des World Wide Web mit WWW- Administratoren aus aller Welt. Es war ein faszinierendes Um- feld. Aber zugleich war es für mich als Philosophen doch auch enttäuschend. Denn Geistes- oder Sozialwissenschaftler, die sich mit den tieferliegenden Auswirkungen der neuen Technologie beschäftigten, suchte ich auf der Konferenz vergeblich. Im Buchladen von MIT Press in Cambridge lag gleich ein ganzer Sta- pel des frisch gedruckten Werkes von Sherry Turkle aus. Ich erinnere mich noch sehr genau an meine erste Schnell-Lektüre des Buches. Ich saß in der Sushi-Bar des Kongreßzentrums am Co- pley Place in Boston, wo gerade die erwähnte WWW-Konferenz stattfand, und inhalierte Turkle. Mir war schnell klar, daß es sich bei diesem Buch um das Gründungsdokument der humanwissen- schaftlichen Internetforschung handelte.

Sp. :
Sherry Turkles Buch unterscheidet sich deshalb von vielen ande- ren Werken der inzwischen überbordenden Computer-Literatur, weil die Autorin sich sehr genau auf ihren Gegenstand einläßt. Selbst Experten, wie Sandbothe, können immer wieder etwas Neues entdecken. Es sind nicht abstrakte Metaphern postmoderner Theo- rien, in denen sie sich bewegt. Vielmehr steht zu Beginn die Beobachtung. Erst dann folgen Theorien und Interpretationen. Wie in einem Spiel kann man mit ihr die Marktplätze und Häuser der MUDs betreten. Schicht für Schicht legt sie die verschie- denen Ebenen frei, die ein Spieler nach seiner Wahl betreten kann.

Zit 2:
MUDs liefern Welten für anonyme soziale Interaktionen, in denen Sie eine Rolle spielen können, die Ihrem wirklichen Selbst so nahe kommt oder so fern bleibt, wie Sie es wünschen. Für viele Mitspieler werden die Darstellung der Figur(en) und die Aktivi- täten im/in MUD(s) zu einem wichtigen Teil ihres Lebens. Da der Reiz des Spiels weitgehend davon abhängt, daß man viele persön- liche Beziehungen knüpft und an den rasch wechselnden Debatten und Projekten einer MUD-Gemeinschaft teilhat, läßt sich die Spielzeit schlecht auf ein moderates Maß einschränken.

Sp. :
Doch nicht nur die bis zur Sucht reichende Nutzung der virtuel- len Welt ist für Sherry Turkle das entscheidende. Vielmehr ste- hen für sie die Spielmöglichkeiten im Vordergrund: Denn jeder im Netz kann nach Gutdünken eine Rolle spielen, mehrere gleich- zeitig oder auch wechselnde. Beliebig oft hat er die Möglich- keit, sein Geschlecht, seine Rollen insgesamt zu tauschen oder Teile seines Selbst auszuprobieren, die er vielleicht sonst un- terdrückt.

Zit 2:
Wenn auch MUDs nicht die einzigen "Orte" im Internet sind, an denen wir mit unserer Identität spielen können, so bieten sie doch eine unvergleichliche Möglichkeit zu solchem Spiel. In ei- nem MUD ist man gehalten, eine Figur und eine Welt zu erschaf- fen und in dieser Spielsituation zu leben. Ein MUD kann zu einen Kontext werden, in dem man entdeckt, wer man ist und wer man sein möchte. So gesehen, sind die Spiele Laboratorien für die Identitätskonstruktion... Die Anonymität der meisten MUDS bietet dem einzelnen eine Fülle von Möglichkeiten, unerforschte Bereiche seines Selbst auszuleben.

Sp. :
Stewart z.B. hat sich neben Achilles noch andere Identitäten im Netz zugelegt. In diesen Rollen kann er das ausspielen, was er sich im wirklichen Leben gewünscht hätte. Er kann sich erpro- ben, Verhaltensweisen testen, die er sich sonst nicht traut. Denn in der Realität lebt er zurückgezogen in einem Studenten- heim, wo er seine Prüfungen in Physik vorbereitet. Er ist schüchtern und gehemmt und leidet seit seiner Kindheit unter Herzbeschwerden.

Zit 1:
Ich habe Schwierigkeiten mit gefühlsmäßigen Angelegenheiten und werde ganz schlecht mit ihnen fertig. Immer tue ich das Falsche... Solange meine Probleme akut sind, kann ich nicht über sie sprechen. Ich muß warten, bis sie Geschichte sind. Wenn ich ein emotionales Problem habe, kann ich nicht mit ande- ren darüber reden.

Sp. :
In den MUDs versucht er die Hemmungen zu überwinden. Er hat sich eine Ersatzwelt geschaffen, in der er sich stürzt, wie er sich zuvor in sein Studium oder seine Hobbys gestürzt hat. In der anderen Welt verkörpert er sein "ideales Selbst", wie Sherry Turkle sagt. Doch außerhalb des Netzes fühlt er sich zunehmend eingeschüchtert. Immer größer wird der Kontrast zwischen den übergroßen Idealen und seinen realen Möglichkeiten.

Zit 2:
Bei Stewart hat das Spielen in den MUDs am Ende zu einer Beein- trächtigung der Selbstachtung geführt. Sein Fall zeigt, wie komplex die psychologischen Effekte des Lebens im Netz sein können. Und er belegt, daß ein sicherer Ort allein nicht aus- reicht, um eine Persönlichkeitsveränderung herbeizuführen... In den extremen Anforderungen wissenschaftlicher Arbeit und der "Zuverlässigkeit von Maschinen" findet Stewart Trost. Mit der veränderlichen und unvorhersagbaren Welt der Menschen kommt er nicht zurecht.

Zit 1:
[hallend, links] Return to Sherry Turkle's Home Page. [Klicken]

Sp. :
Ganz anders als bei Stewart, dessen persönliche Probleme durch die Möglichkeiten der MUDs noch verstärkt wurden, haben viele Reisende im Internet neue Strategien entwickelt, um die Erfah- rungen aus dem Netz wieder in ihre Realität außerhalb des Com- puters zu holen. Julee, Matthew und Gordon beispielsweise, mit denen Sherry Turkle ebenfalls ausführliche Gespräche geführt hat, probieren im Netz verborgene Charaktereigenschaften aus, die sie in sich spüren.

Zit 2:
Gordon hat in MUDs mit vielen verschiedenen Figuren experimen- tiert, die jedoch alle etwas gemein haben: Jede Figur besitzt Merkmale, die er bei sich selbst zu entwickeln versucht. Er be- schreibt eine Gestalt, die er gegenwärtig spielt, als

Zit 1:
eine Verkörperung von mir. Sie ist wie ich, nur überschwengli- cher, blumiger und romantischer, mit einer ironischen Einstel- lung zu dem Ganzen.

Zit 2:
Eine weitere Figur ist

Zit 1:
still, älter, wenig interessiert an dem, was andere Menschen tun

Zit 2:
kurz: selbstbewußter und selbständiger als der echte Gordon. Eine dritte Figur ist weiblich. Gordon vergleicht sie mit sich selbst:

Zit 1:
Sie ist koketter, experimentierfreudiger und sexuell entschieden unverklemmter.

Zit 2:
Das Spiel hat (Gordons) Bewußtsein dafür geschärft, daß sein Selbst sich ständig weiterentwickelt. Er sagt über sein reales Selbst, daß es beginne, Teile und Stücke von seinen Figuren zu übernehmen. Durch Entwicklung mannigfaltiger Personae kann er auf kontrollierter Weise mit verschiedenen Merkmalsbündeln ex- perimentieren und herausfinden, wohin sie führen. Obwohl jede der unterschiedlichen Personae eine unabhängige, in sich ge- schlossene Entität ist, bezieht er sie alle auf "sich selbst". In dieser Hinsicht besteht eine Verwandtschaft zwischen seinen unterschiedlichen Personae; jede ist ein Aspekt seiner selbst.

Sp. :
Diese Möglichkeiten, mit der Vielfalt des Ichs zu spielen, sich nicht als hermetisch geschlossenes Selbst zu begreifen, das - um autonom sein zu können - alle divergierenden Aspekte unter ein Dach zu zwingen sucht; diese Chancen des Netzes, faszinie- ren die amerikanische Psychoanalytikerin. Sie knüpft damit an Theorien vom dezentrierten Selbst an, wie sie in einem Teil der Psychoanalyse nach Freud entwickelt worden ist. Im Gegensatz zur Ich-Psychologie, die von einem einheitlichen Selbst aus- geht, ist hier von vielfältigen Dimensionen des Ichs die Rede. Diese theoretische Prämisse wird in der postmodernen Theorie eines Derrida, Lacan, Deleuze, Lyotard oder Foucault weiterent- wickelt. Sherry Turkle lotet die Theorien bis an die Grenze aus. Denn hinter der Begeisterung für die virtuellen Welten vermutet sie auch eine tiefgreifende Krise des modernen Men- schen. Er ist dabei sich von den Vorstellungen eines einheit- lichen Selbst zu verabschieden. Das Bild von der multiplen Per- sönlichkeit wird hierzu immer öfters herangezogen.

Zit 2:
In der alltäglichen Praxis vieler User sind Fenster zu einer starken Metapher für die Annahme geworden, daß das Selbst ein multiples, dezentriertes System ist. Das Selbst spielt nicht mehr nur verschiedene Rollen in verschiedenen Kontexten zu ver- schiedenen Zeitpunkten... Die Fenster nötigen uns vielmehr die Lebenspraxis eines dezentrierten Selbst auf, das in vielen Welten existiert und viele Rollen gleichzeitig spielt. MUDs er- öffnen den Zugang zu parallelen Identitäten und parallelen Le- benswelten.

Sp. :
Dies gilt insbesondere für Sexualität, das in den Netzen eine große Bedeutung hat. Doch sie gestaltet sich ganz anders als in den schlüpfrigen Geschichten, die immer wieder in der populären Presse ausgebreitet werden. Nicht Datenhandschuhe, vibrierende Dildos und ferngesteuerte Hände stehen dabei im Vordergrund. Vielmehr begeben sich viele Menschen in die virtuellen Gemein- schaften, um dort mit Worten ihre Rollen zu wechseln und auszu- probieren, wie es sich anfühlt, mit einem anderen Geschlecht zu agieren. Dieser Geschlechtertausch im "TinySex", wie das in den MUDs heißt, die Irritation, die dabei entsteht, machen sehr schnell deutlich, wie stark jede reale Kommunikation damit be- ginnt, daß die Geschlechtsrollen festgelegt werden. Das fällt im Netz weg. Häufig ist TinySex Ersatz für eine Partnerschaft, die in der Realität nicht existiert. Oft suchen die Spieler im Netz aber auch nach den Grenzen ihrer Sexualität und nach neuen Erfahrungsräumen.

Zit 2:
TinySex konfrontiert uns mit der Frage, was das Wesen von Sexua- lität und Treue ausmacht. Ist es die körperliche Interaktion? Ist es das Gefühl der emotionalen Nähe zu einem anderen als dem primären Beziehungspartner? Findet Untreue im Kopf oder im Kör- per statt? Liegt sie im Wunsch oder in der Tat? Und in welchem Ausmaß und in welcher Weise sollte es von Belang sein, wer der virtuelle Sexualpartner in Wirklichkeit ist? Daß der physische Körper aus der Situation ausgeblendet bleibt, macht diese Frage verzwickter und schwerer lösbar als früher.

Sp. :
Andererseits sind die meisten MUDs auch öffentliche Treffpunkte, in die jeder Besucher gelangen kann. Das führt häufig dazu, daß viele Themen, auch viele Reaktionen und Haltungen öffentlich diskutiert werden. Angesichts mancher Vorurteile über die zwei- fellos vorhandene Pornographie in den Netzen ist es bemerkens- wert, daß in vielen MUDs und Newsgroups das Thema Gewalt und Vergewaltigung offen diskutiert wird.

Zit 2:
[hallend, rechts] Thomas Kleinspehn schrieb: Kann das Internet Ihrer Meinung nach auch zu einer befreiten Sexualität beitragen?

Zit 1:
[hallend, links] Mike Sandbothe schrieb: Ich denke schon. Es muß nicht, aber es kann zu einer "befreiten Sexualität" führen. So kann die Möglichkeit, im Internet einmal probeweise in die Rolle des anderen Geschlechts zu schlüpfen, für die reale Ge- schlechtsrolle eine Menge in Bewegung bringen. Wer im Internet Erfahrungen mit "Gender Swapping" gesammelt hat, kann unter Um- ständen ein besseres Einfühlungsvermögen in die sexuelle Wahr- nehmung seines Partners bzw. seiner Partnerin entwickeln. Auch die Notwendigkeit, sexuelle Erfahrung und sinnliche Wahrnehmung in Worte zu fassen, mit der man beim TinySex konfrontiert wird, kann befreienden und kreativen Charakter haben. Der Raum des Sexuellen ist in der wirklichen Welt bei vielen Menschen immer noch ein Raum der Sprachlosigkeit und des Schweigens. Hier kann es viel bringen, wenn Internet-Kontakte dazu beitragen, das Se- xuelle mit dem Sprachlichen zu verbinden. Daraus kann eine in- telligentere und interessantere Sexualität hervorgehen. Auch hier sind wieder Gegenszenarien möglich: Leute, die nur noch virtuell genießen können, aber mit realen Körpern und physi- scher Nähe nichts mehr anfangen können.

Sp. :
Spätestens an dieser Stelle taucht die Frage nach der Grenze zwischen der Wirklichkeit und dem Virtuellen auf. Wie können Menschen, die häufig mit dem Netz umgehen, noch unterscheiden, auf welcher Ebene sie sich befinden? Was schützt sie davor, die Maschine oder das Programm für lebendiger zu halten als ihre physische Realität im Alltag?

Zit 1:
[hallend, links] Mike Sandbothe schrieb: Die Grenze zwischen Netz und Alltag fällt nicht mit der Grenze zwischen Schein und Sein oder Irrealität und Realität zusammen. Aber die Grenze, die Netz und Alltag voneinander trennt, hat mit dem Unterschied zwischen körperlicher Abwesenheit und körperlicher Anwesenheit zu tun. Im Netz sind unsere Körper nur als Bilder, als Beschreibungen, als Zeichen anwesend, nicht als taktile, berührbare und phy- sisch verletzbare Entitäten. Im Netz bewegen wir uns in einem anderen medialen Kommunikationsraum. Es ist nicht der physika- lische Raum der materiellen Körper und Atome, sondern der digi- tale Raum der immateriellen Daten und Bits.

Zit 2:
[hallend, rechts] Thomas Kleinspehn schrieb: Aber: Ist Kommunikation nicht doch mehr als nur eine digitale Verbindung über das Netz? Also: MUDs können etwas erweitern, aber nicht ersetzen!?

Zit 1:
[hallend, links] Ja. Das ist richtig. Und ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen. Die Erfahrung der Netzkommunikation kann dazu führen, daß wir die face-to-face-Kommunikation erst wieder richtig schätzen lernen. Das Spiel der Gesten, der Reiz der kurzen Berührung, der unmittelbare Augenkontakt - das alles sind Dinge, die bei vielen Menschen längst routinisiert sind und in ihren Bedeutungsdimensionen verkannt werden. Die anäs- thetische Reduktion der Kommunikation, die für die digitalen Textwelten der MUDs und MOOs charakteristisch ist, kann dazu führen, daß wir nach einem längeren Ausflug in die Welt der schriftlichen Interaktion die körperliche Präsenz des Anderen in der realen Kommunikation ganz neu wahrnehmen. Es findet eine Revalidierung der face-to-face-Kommunikation statt. Wir lernen ihre Besonderheiten wieder schätzen und beginnen sie sensibler einzusetzen. Auch unsere eigenen Gesten und Blicke werden uns bewußter, weil wir im Netz vorübergehend gezwungen waren, das, was wir sonst mit dem Körper unbewußt artikulieren, bewußt in Schriftsprache auszudrücken. Diese Bewußtheit bleibt erhalten, wenn wir von der Schriftwelt des Netzes in die Körperspiele der realen Welt zurückkehren.

Zit 2:
[hallend, rechts] Das Netz also als Befreiung, als Versuch, zivilisa- torische Zwänge abzubauen?

Zit 1:
[hallend, links] Hier läßt sich natürlich nichts generalisieren. Es kommt darauf an, wie der einzelne mit diesen Dingen umgeht. Das aber liegt nicht nur an seiner spezifischen psychischen Kon- stellation, wie Turkle nahelegt. Hier spielen auch gesell- schaftliche Faktoren eine wichtige Rolle, die bei Turkle meines Erachtens etwas zu kurz kommen. Sehr viel hängt nämlich davon ab, ob die Menschen im Rahmen gesellschaftlicher Institutionen lernen können, produktive Verflechtungen zwischen Virtualität und Realität herzustellen. Dabei spielen die Netznutzungsformen eine wichtige Rolle, die wir in der Schule oder an der Univer- sität kennenlernen und die uns im Fernsehen oder in der Zeitung präsentiert werden. Die systematische Vermittlung von Medienkompetenz ist hier ein wichtiges Stichwort.

Sp. :
[Werbesprache, verzerrt] Lust @uf eine vernetzte Beziehung? Die Online- Medien haben sich zu einem ernstzunehmenden zentralen Kommunikationsinstrument für Unternehmen, Institutionen und Or- ganisationen entwickelt. Wen wundert es da, daß der Anteil der Cyberfreaks abnimmt und die Zahl der Manager wächst, die von den weitreichenden Möglichkeiten der Internet-Kommunikation überzeugt sind und diese nun auch im Rahmen ihrer Öffentlich- keitsarbeit aktiv einsetzen möchten? Aus einer Anzeige in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Zit 2:
[hallend, rechts] Thomas Kleinspehn schrieb: "Was ist das Spezifische am Netz? Müßte man nicht zugestehen, daß dieses Thema der Rol- lenvielfalt schon ein sehr altes ist: von Pygmalion und dem Go- lem bis hin zu Goffmann's "Wir alle spielen Theater"? Oder gibt es da doch einen Unterschied?

Zit 1:
[hallend, links] Das Alter eines Themas ist für einen Philosophen immer eher ein Qualitäts- und Wichtigkeitssiegel als ein Gegenargu- ment. Natürlich geht die moderne Identitäts-Pluralisierung in der Theorie zurück bis auf Montaigne, Nietzsche, Goethe, Valéry und viele andere. So diagnostizierte Montaigne bereits 1580 in seinen Essais:

Zit 2:
"Wir sind alle aus lauter Flicken und Fetzen und so kunterbunt unförmlich zusammengestückt, daß jeder Lappen jeden Augenblick sein eigenes Spiel treibt. Und es findet sich ebensoviel Ver- schiedenheit zwischen uns und uns selber wie zwischen uns und anderen."

Zit 1:
[hallend, links] Das Interessante an Turkles Untersuchungen ist, daß sie vor Augen führt, wie in den MUDs und MOOs die patchwork-ar- tige Vielgestaltigkeit unseres Selbst, die von der Tradition eher als verborgene philosophische Wahrheit behandelt worden war, zu einer ganz einfachen Alltagserfahrung wird. Natürlich ist nach Goffman und Gergen jedem von uns klar, daß wir im wirklichen Leben ständig Theater spielen, d.h. verschiedene Rollen übernehmen und hin und wieder sogar unsere Identität wechseln. Aber für die MUD-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer, die in verschiedenen Computer-Fenstern gleichzeitig mehrere Rollen spielen und sich immer wieder neue Identitäten konstruieren, wird die untergründige Pluralität, die bereits unser Off-line- Leben charakterisiert, zu einer offensichtlichen Tatsache und bewußten Lebenspraxis. Das ist der entscheidende Punkt. Etwas, das off-line im Verborgenen und Unbewußten geschieht, wird durch die Kommunikationspraxis in den MUDs und MOOs an die Oberfläche gebracht, wird bewußt vollzogen und ausgelebt.

Sp. :
Sherry Turkle hat viele verschiedene Antworten gefunden, als sie sich auf die Suche danach begab, wie Menschen mit dem Netz um- gehen. Sie ist sich sehr wohl bewußt, daß die virtuellen Welten neue Wege öffnen , auch neue Erkenntnisse vermittlen können. Doch sie sieht das differenziert.

Zit 2:
Das Leben im Cyberspace bietet, wie das Leben überhaupt, nicht allen gleiche Chancen. Die Antwort auf die Frage: "Sind MUDs für das seelische Wachstum förderlich oder abträglich?" ist so vielschichtig wie das Leben selbst. Wenn man über ein gesundes Selbst verfügt, das sich durch Beziehungen weiterentwickeln kann, dann können MUDs sehr hilfreich sein. Andernfalls drohen einem ernste Schwierigkeiten... Wir können in virtuellen Welten verlorengehen. Manche Kritiker betrachten das Leben im Cyber- space als bloßen Schein, als Flucht oder leere Zerstreuung. Das ist nicht richtig. Die Gefahren, die wir dort machen, sind ernst zu nehmen. Sie zu bagatellisieren hieße ihre Gefahr zu verkennen. Wir müssen die Dynamik der virtuellen Erfahrung ver- stehen, um einerseits ihr Gefahrenpotential abzuschätzen und sie andererseits optimal zu nutzen.

Zit 1:
[hallend, links] Return to Sherry Turkle's Home Page. [Klicken]

Sp. :
Der Umgang mit den virtuellen Welten im Computer können Menschen helfen - so Sherry Turkle - ihre Gefühle besser zu verstehen, die Erfahrung von Vielfältigkeit zu verstärken. Die Nutzer neh- men sich heraus, selbst zu gestalten und einzugreifen und damit die Angst vor Kontrollverlust abzubauen. Sie erhalten zugleich die Chance, dadurch dem Erwartungsdruck ihrer Umwelt zu entge- hen. Rollenspiele im Netz können jedoch auch Abwehrmechanismen in Frage stellen, die bis dahin der psychischen Stabilität des Spielers gedient haben. Nachdenklich könnte auch stimmen, daß die Maschine immer häufiger zum Ersatz für Therapeuten zu wer- den scheint. Aus ihren Gesprächen weiß die amerikanische Auto- rin, daß psychische Labilität im Netz unabsehbare Folgen in der Realität haben kann. Entscheidend ist deshalb für sie, die Wirklichkeit nicht von der Welt des Computers zu trennen und umgekehrt. Der Computer ist für sie nicht die Ursache für post- moderne Zersplitterungen. Vielmehr bringt er die Heterogenität des dezentrierten Lebens außerhalb auf den Punkt. Hier geht sie einen Schritt über ihr früheres Buch hinaus, in dem sie sich überwiegend skeptisch gegenüber den damals neuen technischen Möglichkeiten geäußert hat. Jetzt rücken für sie die Chancen und Möglichkeiten des Netzes in den Vordergrund. Aber bleibt nicht dennoch die Gefahr postmoderner Beliebigkeit, die durch die unbegrenzten Möglichkeiten des Internet gefördert wird? Oder fehlt nicht womöglich etwas, das an die Stelle des autono- men Ichs tritt?

Zit 1:
[hallend, links] Mike Sandbothe schrieb: Aus dem Stand-Alone-Computer, der mich narzißtisch mit mir selbst rückkoppelt ohne eine Ver- bindung zur Außenwelt herzustellen, ist der kommunikative Netz- Computer geworden, der mich mit anderen Menschen weltweit in Beziehung setzt. Ich denke, wir sollten die pluralen Identitä- ten der Netzwelten nicht ohne weiteres mit strukturlosen und beliebigen Identitäten gleichsetzen. Natürlich besteht die Ge- fahr, daß Menschen im Internet so unterschiedliche Rollen spie- len und so heterogene Identitäten konstruieren, daß sie die Pluralität nicht mehr zusammenhalten können. Auf diese Gefahr weist Turkle in dem Kapitel "Identitätskrise" explizit hin. Und sie macht zugleich klar, daß diese Gefahr nicht vom Internet irgendwie automatisch aufgefangen wird. Ihre These ist vielmehr die, daß es vom individuellen Nutzer und seiner real-life-Iden- tität abhängt, wie er mit seinen virtuellen Identitäten im In- ternet umgeht. Begreift er das Internet auschließlich als Flucht- und Kompensationsraum, in dem er den Problemen zu ent- kommen versucht, die er mit seiner realen Identität hat, dann ist die Gefahr, daß er sich im Internet verliert, sehr groß. Versteht der Internet-Nutzer statt dessen jedoch die virtuellen Welten des Internet als kreative Experimentierfelder, in denen er Erfahrungen sammeln kann, dann kann er durch das Netz unter Umständen lernen, seine verschiedenen Rollen und Identitäten miteinander zu verflechten und in ein produktives Wechselspiel zu versetzen. Es gibt also keine monokausale Determination des Nutzers durch die neue Technologie, sondern ein Spektrum von Nutzungsmöglichkeiten, die von unterschiedlichen Nutzerinnen und Nutzern unterschiedlich gestaltet werden und zu unter- schiedlichen Konsequenzen führen.

Zit 2:
[hallend, links] Sherry Turkle existiert nur virtuell!! Sie ist das Konstrukt (personae) eines kanadischen Studenten, der zunächst nur als MUD-Spieler in dieser Rolle Erfolg hatte und schließ- lich weltweit Furore gemacht hat. Die Bilder zeigen seine ver- storbene Mutter und sind lediglich eine Täuschung. Dennis, eine Stimme aus dem Netz.

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